Die Weisheit der Antike im Coaching-Zeitalter

Entwicklung und Ins-tu-onalisierung der philosophischen Beratung

Coaching als angewandte Philosophie

Was haben Hebammen, Philosophen und Business-Coaches, gemeinsam und warum ist eine Antwort oft klug, eine Frage jedoch weise? Diese Berufungen teilen eine wesentliche Gemeinsamkeit: die Fähigkeit, Prozesse der Geburt zu begleiten – sei es die Geburt eines Kindes, die Geburt einer Idee oder die Geburt neuer Perspektiven im Geist eines Klienten.

Coaching als angewandte Philosophie: Sokrates‘ Erbe im modernen Business

Die Praxis des Coachings im heutigen Sinne wurzelt tief in der sokratischen Methode der Maieutik, einer Kunst des Fragens, die darauf abzielt, den Geist zur Selbstentdeckung zu führen. In diesen Dialogen, die schon in der Antike praktiziert wurden, ist es nicht der Lehrer oder Coach, der Wissen oder Einsichten „gebärt“. Vielmehr hilft er dem Schüler oder Klienten – dem „Gebärenden“ – durch geschicktes Fragen, eigene Ideen und Lösungen selbstständig zu entwickeln und zu „gebären“. Diese Herangehensweise repräsentiert eine tiefgreifende philosophische Haltung und Gesprächsführung, die auf der Überzeugung basiert, dass wahre Erkenntnis aus dem Inneren des Individuums stammt. In diesem Kontext wird ‚Philosophical Counseling‘ als eine Form des Coachings definiert, die auf philosophischen Prinzipien basiert und darauf abzielt, Klienten bei der Auseinandersetzung mit existenziellen, moralischen und lebenspraktischen Fragen zu unterstützen. Wie Achenbach (1998) betont: „Philosophical Counseling ist kein therapeutisches Heilmittel, sondern ein Dialog unter Gleichgestellten, der darauf abzielt, Klarheit, Einsicht und Weisheit zu fördern.“
Diese Tradition des philosophischen Denkens und Fragens findet sich auch in der modernen Psychologie wieder, die als Wissenschaft ursprünglich aus der Philosophie hervorgegangen ist. Die Psychologie erforscht, wie Menschen denken, fühlen und sich verhalten, und nutzt dabei oft Methoden, die ihre philosophischen Wurzeln erkennen lassen. Im täglichen Business-Coaching manifestiert sich diese Verbindung als praktizierte Philosophie: Durch die Förderung von Selbstreflexion und Selbstentdeckung werden Klienten darin unterstützt, ihre eigenen Antworten auf berufliche und persönliche Herausforderungen zu finden. So wird das Coaching zu einem Feld, in dem die antike Weisheit der Philosophie auf lebendige und praktische Weise im Kontext der modernen Arbeitswelt Anwendung findet.

Coaching als angewandte Philosophie: Sokrates' Erbe im modernen Business

Entwicklung und Institutionalisierung der philosophischen Beratung

Der Ansatz des Philosophical Counseling ist tief verwurzelt in der Sokratischen Methode, die über Jahrhunderte hinweg den philosophischen Dialog geprägt hat. Dieser Ansatz betont die Bedeutung von Fragen, um Denken und Reflexion anzuregen. Im Laufe der Zeit hat sich diese Methode nicht nur theoretisch weiterentwickelt, sondern auch institutionell etabliert. Organisationen wie die „American Philosophical Practitioners Association“ und die „Internationale Gesellschaft für Praktische Philosophie“ (IGPP) in Deutschland tragen maßgeblich zur Formalisierung und Qualitätssicherung dieses Beratungsansatzes bei. Durch die Bereitstellung von Programmen und Zertifizierungen wird das wachsende Interesse an einem Beratungszweig gefördert, der komplexe Lebensfragen adressiert und tiefgründiges Fragen als Schlüssel zum Verständnis sieht. Seit den 1980er Jahren erlebt die philosophische Beratung eine Renaissance, indem sie historische Reflexion mit zeitgenössischen Anwendungen im Coaching verknüpft.
Die Essenz des sokratischen und platonischen Denkens liegt in der Überzeugung, dass wahre Weisheit und Erkenntnis durch Selbstreflexion und kritisches Hinterfragen erreicht werden können. Im Coaching-Kontext überträgt sich dies in die Praxis, Klienten dabei zu unterstützen, ihre eigenen Annahmen zu hinterfragen, Selbstbewusstsein zu entwickeln und neue Perspektiven zu entdecken. Dieser Ansatz fördert die Entwicklung von Problemlösungskompetenzen und hilft Klienten, eigenständige Lösungen für ihre Herausforderungen zu finden. Moderne Denkschulen wie die kognitive Verhaltenstherapie, die humanistische Psychologie und die systemische Beratung beziehen sich direkt oder indirekt auf das sokratische und platonische Erbe. Sie nutzen Techniken des Hinterfragens und der Reflexion, um Klienten zu helfen, ihre Gedanken und Verhaltensweisen zu verstehen und zu verändern. Somit bleibt das Erbe von Sokrates und Platon nicht nur in der akademischen Philosophie lebendig, sondern findet auch in der praktischen Anwendung im Coaching seinen Niederschlag.

Entwicklung und Ins-tu-onalisierung der philosophischen Beratung

Auf der Suche nach der idealen Form

Platon (Antiker griechischer Philosoph des im 4. Jahrhundert v. Chr.) lehrte uns, nach den idealen Formen zu streben, und in der Welt des Coachings ist dieses Streben allgegenwärtig. Wir alle tragen eine Vorstellung des perfekten Selbst in uns, genährt von unseren tiefsten Werten und Überzeugungen. Im Coaching-Prozess geht es darum, diese inneren „Formen“ ans Licht zu bringen, sie zu benennen und in realisierbare Ziele zu verwandeln. Doch der Weg dorthin erfordert eine philosophische Neugier – die Bereitschaft, über die Oberflächenerscheinungen hinauszublicken und die tieferen Muster und Motivationen zu erkennen, die unser Handeln bestimmen. Stellen wir uns Platons berühmtes Höhlengleichnis als eine Allegorie der persönlichen Entwicklung vor. Die Menschen in der Höhle, die an ihre Plätze gefesselt sind und nur die Schatten an der Wand vor sich sehen, repräsentieren uns in Phasen der Unwissenheit oder Selbstbeschränkung. Wir alle kennen diese Phasen, in denen wir uns blockiert fühlen und in einem Tunnelblick agieren, in einem Projekt festgefahren sind oder vor unlösbaren Problemen zu stehen scheinen. Als Coach begleiten wir unsere Klienten auf dem Weg hinaus aus dieser Höhle, hin zu Klarheit und authentischem Leben. In der wissenschaftlichen Perspektive kann die Idee eines „idealisierten Selbst“ im Coaching positiv motivierend wirken, aber auch das Risiko unrealistischen Drucks bergen.

Auf der Suche nach der idealen Form

Diese Idee korrespondiert mit dem Konzept des „Selbstkonzepts“ in der Psychologie, das die Gesamtheit aller Gedanken und Gefühle umfasst, die eine Person in Bezug auf sich selbst hat. Einflussreiche Theorien hierzu stammen beispielsweise von Carl Rogers, einem der Begründer der humanistischen Psychologie. Rogers betont in seiner Theorie der Persönlichkeitsentwicklung die Bedeutung des Selbstkonzepts und des Strebens nach Selbstaktualisierung (Rogers, 1959). Er postuliert, dass Menschen ein inhärentes Bedürfnis haben, ihr Potenzial voll auszuschöpfen und ein kohärentes und positives Selbstkonzept zu entwickeln. In der modernen Coaching-Praxis wird das Konzept des idealisierten Selbst häufig mit dem Ziel der Selbstoptimierung und persönlichen Entwicklung verknüpft. Ein relevanter wissenschaftlicher Beitrag dazu stammt von Higgins (1987), der das Konzept des „Selbstleitbildes“ (self-discrepancy) entwickelte. Dieses Modell unterscheidet zwischen dem aktuellen Selbst (wie man sich selbst sieht), dem idealen Selbst (wie man gerne sein würde) und dem Soll-Selbst (wie man glaubt, sein zu sollen). Diskrepanzen zwischen diesen Selbstkonzepten können laut Higgins zu verschiedenen emotionalen Zuständen führen, einschließlich Unzufriedenheit, Angst und Depression, wenn das aktuelle Selbst nicht mit dem idealen oder Soll-Selbst übereinstimmt.

Im Coaching ist es daher wesentlich, Klienten dabei zu unterstützen, realistische und erreichbare Ziele zu setzen, die auf einem authentischen Verständnis ihrer selbst basieren. Ein ausgewogener Ansatz, der Selbstakzeptanz und die Wertschätzung der eigenen Stärken betont, kann dazu beitragen, das Risiko von Frustration und Druck zu minimieren, die entstehen können, wenn unerreichbare Ideale angestrebt werden. So wird das Streben nach einer idealen Form in eine gesunde Richtung gelenkt, die persönliches Wachstum und Wohlbefinden fördert.

Von der Höhle ins Fliegenglas: Wittgensteins Einfluss auf kreatives Denken und Sprache im Coaching

Ludwig Wittgenstein, ein einflussreicher Philosoph des 20. Jahrhunderts, hat mit seinen Überlegungen zur Sprache und Logik einen bedeutenden Einfluss auf das moderne Denken ausgeübt. Seine Arbeit konzentrierte sich auf die Beziehung zwischen Sprache und Realität und darauf, wie unsere Sprachnutzung unser Verständnis der Welt beeinflusst. Diese Perspektiven bieten im Kontext des Coachings wertvolle Einsichten, insbesondere in Bezug darauf, wie wir Probleme angehen und Lösungen entwickeln.

Wittgenstein veranschaulichte dies eindrucksvoll mit der Metapher eines Zimmers, in dem wir erfolglos versuchen, eine Tür zu öffnen, indem wir gegen sie drücken, obwohl sie sich nur durch Ziehen öffnen lässt. Diese Situation symbolisiert, wie wir uns oft in unseren eigenen Denkmustern verfangen. In der Coaching-Praxis ist diese Metapher besonders relevant, da sie dazu anregt, über herkömmliche Lösungsansätze hinauszudenken und kreativere, umfassendere Strategien zu erkunden. Statt mit mehr Kraft gegen Herausforderungen anzugehen, ermutigt sie uns, unsere Herangehensweise grundlegend zu ändern.
Ein weiteres zentrales Konzept Wittgensteins ist das des „Fliegenglases“ (Wittgenstein, 1953). Es veranschaulicht, wie wir oft in den Grenzen unserer Sprache und unseres Denkens gefangen sind. In seinen „Philosophischen Untersuchungen“ betonte er, dass die Bedeutung unserer Worte stark vom Kontext abhängt – eine Erkenntnis, die für das systemische Coaching von großer Bedeutung ist. So kann beispielsweise die Bezeichnung eines Teammitglieds als „schwierig“ durch einen Teamleiter eine bestimmte Wahrnehmung prägen, die vom Kontext beeinflusst wird. Im Coaching nutzen wir Wittgensteins Ansatz, um festgefahrene Kommunikationsmuster zu hinterfragen und aufzubrechen. Das Hinterfragen und Reflektieren dieser Muster im Coaching-Prozess eröffnet neue Wege des Verstehens und der Interaktion, die zu effektiveren und kreativeren Lösungen führen können.

Die Offenheit des philosophischen Coachings: Ein Tor zu lebenslangem Lernen und Verstehen.

Die Offenheit des philosophischen Coachings: Ein Tor zu lebenslangem Lernen und Verstehen.

Das Wesen des philosophischen Coachings besteht in der Bereitschaft, jede Frage als Einladung zu sehen – als Tür zu einer Welt voller Möglichkeiten. In diesem Ansatz werden vorschnelle Antworten durch die Tugend des gründlichen Hinterfragens ersetzt, wodurch das klassische Verständnis von Wissen und Lernen neu definiert wird. Philosophisches Coaching geht über die Bewältigung beruflicher Herausforderungen hinaus; es ist eine lebenslange Reise zur Selbsterkenntnis und ein tiefes Eintauchen in die Welt des Verstehens und Reflektierens.
Die Systemtheorie, die sich mit den dynamischen Wechselbeziehungen innerhalb und zwischen Systemen befasst, steht in einer interessanten Überschneidung mit den Lehren von Sokrates, Platon und Wittgenstein. Sie betont, ähnlich wie die philosophischen Ansätze, die Komplexität und Vernetztheit aller Lebensaspekte und fördert ein ganzheitliches Verständnis von Problemen und Lösungen.

In einer Welt, die oft von schnellen Lösungen und oberflächlichem Denken dominiert wird, bietet philosophisches Coaching eine wertvolle Alternative. Es ermöglicht es uns, die Tiefe unseres inneren Lebens zu erkunden und authentischere Verbindungen zu anderen und zu uns selbst aufzubauen. Dieser Ansatz ermutigt jeden von uns, sich mit der Philosophie zu beschäftigen und die Weisheit der großen Denker in unsere tägliche Praxis und in unser persönliches Wachstum zu integrieren. Wir laden Sie daher ein, die Türen, die die Philosophie öffnet, zu erkunden und sich auf eine bereichernde Reise des Hinterfragens, des Lernens und des Verstehens einzulassen.

(Thomas Lambert Schöberl, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Münchner Akademie für Business Coaching, 2023.)