Lernen lernen – Mythos oder Fakt?
Lebenslanges Lernen ist ein wichtiger Schlüssel zu Erfolg und Freude am Beruf. Doch was, wenn das mit dem „Lernen“ nicht so leicht fällt wie erhofft? Worauf kommt es beim Lernen an und wo lassen sich Transfereffekte gewinnbringend nutzen?
Lebenslanges Lernen – was wirkt wirklich?
Die Studie der beiden Psychologen W. Chase und H. Simon (1973) untersuchte, was Meisterschachspieler von Novizen bezüglich ihrer kognitiven Prozesse unterscheidet.
Ihre Studie gilt als ein Meilenstein in der Lernpsychologie. Die Ergebnisse rütteln an der These, Menschen könnten inhaltsunabhängig Fertigkeiten wie z.B. Problemlösung und kritisches Denken erwerben.
Schach macht schlau!?
Schachmeister, Anfänger und Hobbyspieler wurden mit einer Gedächtnisaufgabe konfrontiert. Die Spieler sollten eine Schachstellung unter zwei Bedingungen eproduzieren – und zwar nachdem sie die Konstellation für nur fünf Sekunden betrachten durften.
Bei der ersten Bedingung handelte es sich um Positionen aus einem echten Spiel. Bei der zweiten Bedingung wurden völlig irrwitzige, unrealistische Konstellationen präsentiert.
In zahlreichen Versuchen wurde getestet, wie viele Figuren die Probanden aus dem Gedächtnis reproduzieren konnten.
Das Ergebnis zeigte, dass die Schachmeister nur bei der Konfrontation mit realistischen Schachformationen überlegen waren, wogegen es bei unrealistischen Positionen keinen Unterschied gab – hierbei waren die Schachmeister sogar schlechter als die Novizen unter der ersten Bedingung.
Ihre Überlegenheit bezog sich also nicht auf eine allgemein bessere Memorierfähigkeit, sondern auf den Abruf ihrer Expertise – dem Wissen über Schachpositionen. Ihr Vorteil war domänenspezifisch.
Domänenübergreifende Fähigkeiten hingegen sind Fähigkeiten, die in jedem beliebigen Bereich Problemlösung ermöglichen (kritisches Denken, inhaltsunabhängige Lernmethoden).
Expertenwissen unterscheidet sich von dem der Novizen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Das Wissen, das sich nicht auf einfache Fakten, sondern auf Zusammenhänge zwischen Fakten und die Konzepte und Prinzipien hinter den Fakten bezieht, nennt man konzeptuelles Wissen.
Beim Schach beinhaltet das konzeptuelle Wissen die Zusammenhänge einzelner Figuren, die für das Spiel einen Sinn ergeben.
Fachwissen bleibt unverzichtbar
Experten verfügen also nicht nur über mehr Faktenwissen, sondern auch über mehr konzeptuelles Wissen. Weil konzeptuelles Wissen aber immer an konkrete Inhalte geknüpft ist, durchdringen und verstehen Meister immer jene Sache, in der sie eben Experte sind.
Vor allem konnte die Studie aufzeigen, dass das Fachwissen der Schachmeister nicht auf andere Bereiche übertragbar war. Wer also gut Schach spielt, kann nicht zwangsläufig besser logisch denken – er spielt einfach nur gut Schach.
Wer über juristische Zusammenhänge einen hervorragenden Artikel verfasst und stichhaltige Argumente formuliert, hat folglich keine bessere Argumentationsfähigkeit, sondern ist in Rechtsfragen besonders versiert und verfügt über die adäquaten sprachlichen Mittel sich zum Thema zu äußern.
Das Trainieren einer Domäne hat überraschend oft keinen Einfluss auf das erfolgreiche Erlernen einer anderen. Daraus folgt: Latein fördert kein logisches Denken und Klavierspielen macht nicht intelligenter. Der Transfermythos gilt also längst als überholt.
Die Idee, Mitarbeiter darin fortzubilden, allgemein anwendbare Kompetenzen zu erwerben (Problemlösung, allgemeine Methoden des Kompetenzerwerbs) bzw. auch das Erlernen von allgemeinen Methoden des Wissens von Kompetenzerwerb (Lernen lernen), beruht auf einer Fehlvorstellung menschlicher Informationsverarbeitung.
Fortbildungen können zwar sogenannte metakognitive Strategien vermitteln und einüben – d.h. Strategien zur Planung, Überwachung und Evaluation, als Voraussetzung für z.B. kritisches Denken – doch nicht kritisches Denken selbst.
Ein Problem aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten kann zwar erwünscht sein und plausibel erscheinen, alternative Problemlösungen, Abwägungen und nachhaltige Schlussfolgerungen entstehen jedoch erst im Kontext konzeptuellen Wissens. Der Grad der Umsetzung von metakognitiven Strategien ist und bleibt abhängig vom Fachwissen.
Auch entdeckendes Lernen und interdisziplinäres Lernen werden erst ab einer gewissen Expertise fruchtbar – dieser Effekt nennt sich „expertise reversal effect“.
Eine erfolgreiche Personalentwicklung und nachhaltige Fortbildungsprogramme müssen individuell und sehr differenziert das Vorwissen ihrer Mitarbeiter und Auszubildenden im Blick haben.