Kluge Köpfe, müde Entscheidungen

Warum Führungskräfte unter Decision Fatigue leiden und wie Coaching dabei hilft
Ein langer Tag neigt sich dem Ende zu, und ausgerechnet jetzt fällt die schwerste Entscheidung des Tages an: Pizza bestellen oder doch noch selbst kochen? Führungskräfte kennen diese scheinbar harmlosen Situationen gut – das berüchtigte Entscheidungstief am Abend. Barack Obama wusste das auch. Während seiner Amtszeit wählte er bewusst zwischen nur zwei Anzugfarben: Blau oder Grau. Mehr war nicht drin, und mehr sollte es auch nicht sein. Die Logik dahinter ist verblüffend einfach: Je weniger triviale Entscheidungen täglich getroffen werden müssen, desto mehr mentale Energie bleibt für wirklich Wichtiges übrig.
Die Psychologie nennt dieses Phänomen „Decision Fatigue“ – auf Deutsch etwa: Entscheidungsmüdigkeit. Gemeint ist die mentale Erschöpfung, die entsteht, wenn zu viele Entscheidungen getroffen werden müssen. Unser Gehirn verhält sich dabei ähnlich wie ein Muskel: Je öfter und intensiver es beansprucht wird, desto schneller ermüdet es. Das Ergebnis? Der Vorrat an Willenskraft schmilzt langsam dahin, und damit leidet die Qualität unserer Entscheidungen zunehmend – eine Erkenntnis, die weitreichende Konsequenzen haben kann.
Die Psychologie hinter Entscheidungsmüdigkeit – warum unser Geist erschöpft
Interessant ist dabei auch, wie sich Decision Fatigue ganz praktisch im Alltag auswirkt: Je erschöpfter wir sind, desto anfälliger werden wir für schlechte Angewohnheiten – sei es ungesunde Ernährung, impulsive Einkäufe oder die Tendenz, wichtige Aufgaben aufzuschieben. Studien zeigen, dass Menschen, die unter Entscheidungsmüdigkeit leiden, deutlich häufiger kalorienreiche Snacks oder Fast Food konsumieren – ein Versuch des Gehirns, den abgesunkenen Glukosespiegel schnellstmöglich wieder anzuheben und ein Phänomen, das besonders am Abend nach einem langen Tag zum Tragen kommt.
Apropos Kalorien: Tatsächlich verbraucht unser Gehirn durch Denkarbeit und Entscheidungsprozesse allein täglich rund 320 Kalorien – das entspricht ungefähr einer halben Stunde schnellem Radfahren. Dabei hängt der Energieverbrauch stark von der Anzahl und Komplexität der Entscheidungen ab: Insgesamt treffen wir etwa 20.000 Entscheidungen pro Tag – die meisten davon allerdings unbewusst oder automatisch. Ein Top-Manager trifft jedoch täglich zusätzlich etwa 70 bewusste, komplexe und folgenreiche Entscheidungen, die besonders viel neuronale Energie kosten und entsprechend höhere Anforderungen an das Gehirn stellen.
Hinzu kommt, dass Führungskräfte in einer Arbeitswelt leben, die durch Multitasking, permanente Erreichbarkeit und ein extrem hohes Verantwortungsniveau geprägt ist. Jeder Anruf, jede Mail, jedes spontane Meeting verlangt nach einer Reihe von Mikro-Entscheidungen, die zusammen einen erheblichen Anteil der mentalen Ressourcen verbrauchen. Zudem neigen Führungskräfte oft dazu, perfektionistisch zu sein und dadurch ungern Aufgaben zu delegieren – eine Tendenz, die zusätzlich mental belastet. Dieser Perfektionismus resultiert nicht selten aus einem inneren Bedürfnis nach Kontrolle, was die Bereitschaft erschwert, Entscheidungen an andere zu übertragen.
Um die negativen Folgen der Decision Fatigue zu minimieren und die kognitiven Ressourcen wieder aufzuladen, empfehlen wissenschaftliche Studien folgende wirksame Strategien: Eine kurze, aber bewusste Unterbrechung der Arbeit, wie beispielsweise eine fünfminütige Pause in einer natürlichen Umgebung („Green Break“), reduziert messbar den Stresspegel und verbessert die kognitive Leistungsfähigkeit. Die Pomodoro-Technik empfiehlt sich einen Kurzzeitwecker zu stellen und nach 50 min Arbeit 10 min Pause zu machen. Auch strukturierte Entspannungstechniken wie die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson oder kurze Achtsamkeitsübungen haben sich als besonders effektiv erwiesen, um das Gehirn zu regenerieren und neue Willenskraft freizusetzen. Ebenso wichtig: eine konsequente Priorisierung von Entscheidungen nach ihrer Relevanz – entscheidende Fragen möglichst morgens treffen und weniger wichtige Entscheidungen automatisieren, um die wertvolle mentale Energie optimal einzusetzen.
Was können Führungskräfte aus der Philosophie lernen? – Ein Ausflug zu den Stoikern
Auch philosophische Einsichten, insbesondere aus der stoischen Philosophie, können hierbei überraschend wirksame Hilfestellungen bieten. Bereits Marcus Aurelius, der römische Kaiser und berühmter Stoiker, riet dazu, sich klarzumachen, welche Dinge man tatsächlich beeinflussen kann – und welche nicht. Die Stoiker waren Vertreter einer Philosophie, die bereits in der griechischen Antike entstand und später in Rom von prominenten Denkern wie Seneca, Epiktet und Marcus Aurelius vertieft wurde.
Zentraler Gedanke ihrer Lehre war es, dass innerer Frieden und seelische Ruhe nicht von äußeren Umständen abhängen dürfen, sondern aus einer klaren Haltung gegenüber den Ereignissen resultieren. Diese Haltung besteht darin, die Realität bewusst zu akzeptieren und nicht gegen Dinge anzukämpfen, die jenseits der eigenen Kontrolle liegen. Um dies praktisch umzusetzen, nutzten Stoiker Techniken wie tägliche Selbstreflexion, gedankliche Vorbereitung auf Schwierigkeiten („Prämeditation“) und bewusste Wahrnehmung („Prosoche“), um innere Widerstandskraft („Resilienz“) aufzubauen.
Übertragen auf den heutigen Business-Kontext bedeutet dies etwa, dass sich eine Führungskraft zwar über Marktentwicklungen bewusst bleibt, ihre Zeit und mentale Energie aber vor allem dort investiert, wo konkrete Einflussmöglichkeiten bestehen – zum Beispiel in der gezielten Weiterentwicklung der Mitarbeiter, der Optimierung interner Prozesse oder im direkten Kontakt mit Kunden. Wer auf diese Weise bewusst unterscheidet, wofür sich Engagement tatsächlich lohnt, reduziert unnötigen Stress und trifft am Ende effizientere, klarere und bessere Entscheidungen.
Die Rolle des Coachings – psychologische und praktische Strategien gegen Decision Fatigue
Coaching kann entscheidend helfen, Entscheidungsmüdigkeit nachhaltig entgegenzuwirken. Coaches vermitteln Führungskräften nicht nur, wie sie ihre mentalen Ressourcen schonen können, sondern unterstützen sie auch bei der Entwicklung wirksamer Routinen. Ein wichtiger Coaching-Ansatz besteht darin, Routinen zu entwickeln, die alltägliche Entscheidungen automatisieren. Ähnlich wie Barack Obamas Entscheidung, nur zwei Anzugfarben zu tragen, können klare Routinen, standardisierte Prozesse und vereinfachte Entscheidungsstrukturen den mentalen Akku schonen.
Zudem lernen Führungskräfte im Coaching, ihre Tagesplanung bewusster zu gestalten. Forschungsergebnisse belegen eindeutig, dass Entscheidungen morgens deutlich besser getroffen werden können als abends. Ein Coach kann dabei helfen, individuelle Tagesrhythmen zu erarbeiten, die gezielt Phasen hoher mentaler Leistungsfähigkeit für wichtige Entscheidungen reservieren.
Delegation ist ein weiterer zentraler Coaching-Schwerpunkt. Viele Führungskräfte übernehmen weiterhin Aufgaben, die nicht mehr zu ihrer Rolle gehören – aus Kontrollbedürfnis, Gewohnheit oder dem Wunsch, „nichts falsch machen zu lassen“. Doch wer nicht loslässt, verhindert Entwicklung – sowohl die eigene als auch die des Teams. Im Coaching wird Delegation als Ausdruck von Führungsstärke vermittelt: Sie signalisiert Vertrauen und ermöglicht Mitarbeitenden, Verantwortung zu übernehmen. Dabei geht es nicht nur darum, Aufgaben abzugeben – sondern darum, Menschen zu befähigen. Besonders wirksam ist es, wenn Führungskräfte lernen, ihre Mitarbeitenden so zu coachen, dass diese eigenständig Lösungen finden. Delegation wird so zur Grundlage eines wachstumsorientierten Führungsstils im Sinne des Growth Mindset (Dweck), bei dem Kontrolle durch Vertrauen ersetzt wird – und Leistung durch Potenzial.
Schließlich ist Achtsamkeit ein entscheidender Faktor. Studien bestätigen, dass bereits kurze, regelmäßige Achtsamkeitspausen im Arbeitsalltag erheblich zur mentalen Regeneration beitragen. Coaching vermittelt Techniken wie bewusstes Atmen, kurze mentale Entspannungsübungen und die Fähigkeit, den Geist gezielt abzuschalten. Dadurch regeneriert sich der mentale Akku schneller und nachhaltiger.
Ein Blick in die Zukunft – mentale Gesundheit als Schlüsselkompetenz
Die bewusste und strategische Pflege mentaler Gesundheit ist nicht länger ein optionaler Luxus, sondern eine Kernkompetenz der modernen Führung. Unternehmen, die Führungskräften helfen, Decision Fatigue zu reduzieren, profitieren langfristig von besseren Entscheidungen, weniger Burnouts und einer höheren Produktivität. Führungskräfte wiederum erleben durch eine kluge mentale Selbstfürsorge eine höhere Lebensqualität und Arbeitszufriedenheit.
Wer also das nächste Mal zwischen Pizza bestellen und selber kochen schwankt, sollte sich bewusst machen, dass diese Entscheidung vielleicht nicht nur eine Frage der Ernährung, sondern auch eine Frage der mentalen Fitness ist. Coaching und Philosophie bieten hierbei viele praktische und tiefgründige Strategien, um nicht nur den Entscheidungsmuskel zu schonen, sondern auch langfristig nachhaltig zu stärken. So kann man sicherstellen, dass immer genug mentale Kraft vorhanden ist – nicht nur für das Abendessen, sondern vor allem für die wirklich wichtigen Entscheidungen.